Feierstunde in Wentorf
Auf den Tag genau 70 Jahre nach der Feststellung des Parlamentarischen Rates, dass das Grundgesetz eine Mehrheit der LĂ€nderparlamente gefunden hatte â bis auf Bayern hatten alle zugestimmt â wurde dieses JubilĂ€um in der Gemeinde Wentorf mit einer Feierstunde begangen. Das Blasorchester der 8. Klassen des Gymnasiums Wentorf sorgte fĂŒr die Untermalung, das Geschichtsprofil der 11. Klassen hatte eine Ausstellung vorbereitet. Redner waren der stv. BĂŒrgervorsteher Jens Gering und der örtliche Landtagsabgeordnete Martin Habersaat.
Hier das Manuskript der Festrede von Martin Habersaat:
Die Entstehung des Grundgesetzes
PrÀambel 1949
Im BewuĂtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen,
von dem Willen beseelt, seine nationale und staatliche Einheit zu wahren und als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat das Deutsche Volk
in den LĂ€ndern Baden, Bayern, Bremen, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, WĂŒrttemberg-Baden und WĂŒrttemberg-Hohenzollern,
um dem staatlichen Leben fĂŒr eine Ăbergangszeit eine neue Ordnung zu geben,
kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beschlossen.
Es hat auch fĂŒr jene Deutschen gehandelt, denen mitzuwirken versagt war.
Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.
Am 23. Mai 1949, heute vor exakt 70 Jahren, konnte der Parlamentarische Rat feststellen, dass sein am 8. Mai 1949, exakt vier Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, vorgelegter Entwurf fĂŒr ein Grundgesetz durch die Mehrheit der Landesparlamente angenommen worden war.
Als erstes fĂ€llt der Gottesbezug ins Auge. Als Schleswig-Holstein sich 2016 eine neue Landesverfassung gegeben hat, hat die Diskussion um den Gottesbezug viele wichtigere Themen in den Schatten gestellt. Deshalb will ich darauf nur kurz eingehen: In der Paulkirchenverfassung von 1849 und in der Weimarer Reichsverfassung -die dieses Jahr im August 100 Jahre alt wird- war noch kein Gottesbezug enthalten. In unserer Landesverfassung auch nicht. 1949 entschied man sich dafĂŒr, um die Begrenztheit menschlichen Tuns und Demut vor Höherem in der PrĂ€ambel zu formulieren.
Die Landesparlamente hatten dem Entwurf des Parlamentarischen Rates mehrheitlich zugestimmt. Baden-WĂŒrttemberg war bis 1952 noch dreigeteilt. Das Saarland stieĂ erst 1957 zur Bundesrepublik. Bayern war ĂŒberstimmt worden. Im dortigen Landtag war die Abstimmung 64:101 ausgegangen. Die regierende CSU empfand das Grundgesetz als Angriff auf die EigenstĂ€ndigkeit Bayerns und als zu wenig christlich. Die notwendige Zweidrittelmehrheit gab es auch ohne Bayern und der Bayrische Landtag beschloss mit den Stimmen der CSU immerhin, die Ablehnung des Grundgesetzes mit einem Bekenntnis zur Bundesrepublik zu ergĂ€nzen. Damit war in Deutschland auch die Todesstrafe abgeschafft, wenngleich sie aus der Hessischen Landesverfassung erst 2018 gestrichen wurde.
Die Teilung Deutschlands wurde in der PrĂ€ambel erwĂ€hnt, fĂŒr die Wiedervereinigung wurden zwei alternative Pfade im Grundgesetz angelegt: Artikel 23 sah die Möglichkeit eines Beitritts zum Grundgesetz vor, Artikel 146 die Möglichkeit einer neuen, gemeinsamen Verfassung. Ăbrigens noch heute:
Art 146
Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands fĂŒr das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine GĂŒltigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.
NĂ€chstes Jahr feiern wir 30 Jahre Wiedervereinigung. Dann kann man gut darĂŒber diskutieren, ob eine Wiedervereinigung nach Artikel 146 nicht auch Vorteile gehabt hĂ€tte.
ZurĂŒck ins Jahr 1949. Der Krieg war vorbei, der Hungerwinter 1946/47 ĂŒberstanden. Die Welt ahnte, vor welchen Konflikten sie kĂŒnftig stehen wĂŒrde. Der Kalte Krieg war am Horizont zu sehen, die deutsche Teilung sein deutlichstes Zeichen. Man hĂ€tte statt den Landesparlamenten auch die Bevölkerung abstimmen lassen können, wie es in Artikel 146 ja angelegt war. Ich glaube, man tat es aus zwei GrĂŒnden nicht: Die PrĂ€ambel betont die VorlĂ€ufigkeit des Unternehmens. Man hatte das Werk âGrundgesetzâ genannt und nicht âVerfassungâ, weil eine solche vom gesamten deutschen Volk beschlossen werden sollte. Und der zweite Grund: Die Weimarer Republik hatte sich als Demokratie ohne allzu viele Demokraten erwiesen, so ganz traute man dem Volk vielleicht noch nicht. Das ist auch eine oft zu lesende ErklĂ€rung auf die Frage, warum das Grundgesetz nur sehr wenige direktdemokratische Elemente enthĂ€lt. Neben Artikel 146 gibt es da nur
Art 29
 (2) MaĂnahmen zur Neugliederung des Bundesgebietes ergehen durch Bundesgesetz, das der BestĂ€tigung durch Volksentscheid bedarf. Die betroffenen LĂ€nder sind zu hören.
An diesem Paragrafen scheiterte 1996 die Vereinigung von Berlin und Brandenburg, weil die Bevölkerung Brandenburgs nicht mitmachte. Das ist der erste Punkt, der bei immer wieder auftauchenden Gedankenspielen zu einem Nordstaat bedacht werden sollte.
Konsequenzen aus den Erfahrungen des Scheiterns von Weimar waren auch der Einstieg ins Grundgesetz mit den Menschenrechten und die sogenannte Ewigkeitsklausel.
Die Ewigkeitsklausel
Art 79
(3) Eine Ănderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in LĂ€nder, die grundsĂ€tzliche Mitwirkung der LĂ€nder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten GrundsĂ€tze berĂŒhrt werden, ist unzulĂ€ssig.
Art 1
(1) Die WĂŒrde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schĂŒtzen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
(2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unverĂ€uĂerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.
(3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.
Art 20
(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.
(2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeĂŒbt.
(3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmĂ€Ăige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.
(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.
Der letzte Absatz ist sehr geeignet, die Phantasie von SchĂŒlerinnen und SchĂŒlern im Geschichts- oder Politikunterricht anzuregen.
III. Die Mamas und die Papas
Was war das fĂŒr eine Gruppe, die da 1949 im Bonner Naturkundemuseum ein Provisorium entwickelte, das jedes der Gruppenmitglieder ĂŒberleben sollte?
Vorbereitet wurde die Arbeit des Parlamentarischen Rates durch einen Konvent von LÀnderdelegierten und Rechtsexperten auf Herrenchiemsee. Man tagte vom 10. bis 23. August 1948 im Auftrag der MinisterprÀsidenten der westdeutschen LÀnder und legte einen 95seitigen Entwurf vor. Die MinisterprÀsidenten wollten sich eigentlich auf nichts festlegen, was den Zuschnitt Deutschlands verstetigen konnte. Es war ein Kompromiss mit den BesatzungsmÀchten, den provisorischen Charakter zu betonen.
Dem Parlamentarischen Rat gehörten 65 Vertreter der Landesparlamente und fĂŒnf Berliner ohne Stimmrecht an. Ein paar Mitglieder sehen wir uns genauer an:
Vorsitzender war Konrad Adenauer (CDU, 73). Von 1917 bis 1933 und 1945 war er OberbĂŒrgermeister von Köln gewesen. Adenauer, dessen eigentliche Karriere noch vor ihm liegt, war das drittĂ€lteste Mitglied des Parlamentarischen Rates. AltersprĂ€sident ist der Hamburger SPD-Vertreter Adolph Schönfelder (74).
Das jĂŒngste Mitglied war Caspar Seibold (CSU, 35). Ihn hĂ€tte man noch bis 1995 als Zeitzeugen befragen können. Das letzte lebende Mitglied des Parlamentarischen Rates war ebenfalls ein Bayer: Hannsheinz Bauer (SPD) starb 2005 im Alter von 96 Jahren.
Viele prominente Namen finden sich unter den Mitgliedern, und diese hatten bis dahin sehr unterschiedliche Wege genommen: Fraktionsvorsitzender der FDP war Theodor Heuss, der spĂ€tere BundesprĂ€sident. Er war 1933 fĂŒr die Deutsche Staatspartei Mitglied des Reichtags und hatte dem ErmĂ€chtigungsgesetz zugestimmt. Er traf nun den ehemaligen ReichtagsprĂ€sidenten Paul Löbe aus Berlin, der 1933 mit der SPD dagegen gestimmt hatte und kurz danach ins KZ Breslau verschleppt wurde. Löbe wurde spĂ€ter AltersprĂ€sident des ersten Bundestages.
Das Land Schleswig-Holstein entsandte vier Vertreter, keiner davon aus den Kreisen Herzogtum Lauenburg oder Stormarn: Dabei waren der CDU-Landesvorsitzende Carl Schröter, der Jurist und spĂ€tere Grundgesetz-Kommentator Hermann von Mangoldt, ebenfalls CDU und die beiden Sozialdemokraten Rudolf Katz, spĂ€ter Justiz- und Bildungsminister und Andreas Gayk, langjĂ€hriger OberbĂŒrgermeister der Landeshauptstadt Kiel.
Das waren bisher nur MĂ€nner â die oft zitierten VĂ€ter des Grundgesetzes. Das Grundgesetz hatte aber auch MĂŒtter, und zwar genau so viele, es MĂ€nner aus Schleswig-Holstein gab: vier. Zum Vergleich: Sechs Adolfs (Adolph), sechs Friedrichs (Fritz) und fĂŒnf Hermanns im Parlamentarischen Rat standen vier Frauen gegenĂŒber, die hier alle kurz vorgestellt werden können.
Die Sozialdemokratin Frieda Nadig war ehren- und spĂ€ter hauptamtlich in der Arbeiterwohlfahrt aktiv, wurde nach dem Krieg Bundestagsabgeordnete fĂŒr Bielefeld. Nach ihr ist heute unter anderem eine StraĂe in Norderstedt benannt. Interessant ist, mit welchen Forderungen sie sich im Parlamentarischen Rat nicht durchsetzen konnte: Gleicher Lohn fĂŒr gleiche Arbeit auf der einen Seite und die Gleichstellung von unehelichen mit ehelichen Kindern auf der anderen. Manche Themen brauchen lĂ€ngerâŠ
Helene Weber war eine katholische Frauenrechtlerin, die vor dem Krieg in der Zentrumspartei und danach in der CDU aktiv war, wo sie zu den MitgebegrĂŒnderinnen der heutigen Frauenunion gehörte. 1920 war sie als MinisterialrĂ€tin im PreuĂischen Ministerium fĂŒr Volkswohlfahrt die erste Frau in dieser Position, 1933 wurde sie von den Nationalsozialisten aus dem Dienst entlassen.
Wenn in den Parteien seinerzeit ĂŒber Quoten diskutiert wurde, ging es ĂŒbrigens nicht um MĂ€nner und Frauen, sondern primĂ€r um Katholiken und Protestanten. Bei den ersten Bundesregierungen wurde darauf noch streng geachtet. Die einzige Fraktion im Parlamentarischen Rat, die einen Mann und eine Frau entsandte und nach heutiger Sicht quotiert erschien, kam vom katholischen Zentrum. Die Frau war Helene Wessel, 1949 Zentrum-Vorsitzende und damit die erste Frau an der Spitze einer Partei in der Bundesrepublik Deutschland. Sie kam aus der Frauenarbeit der katholischen Kirche. In der Folge trat sie mit dem spĂ€teren BundesprĂ€sidenten Gustav Heinemann ĂŒber die Gesamtdeutsche Volkspartei der SPD bei.
Einen spannenden Lebenslauf mit einem Kampf bis zum Abitur und einer Phase als einziger Jura-Studentin an der UniversitĂ€t Marburg kann man ĂŒber Elisabeth Selbert nachlesen. 1930 promovierte sie ĂŒber âZerrĂŒttung als Ehescheidungsgrundâ â fĂŒr die damalige Zeit ein sehr fortschrittlicher Gedanke, der sich erst viel spĂ€ter durchsetzte. Bis 1977 galt in Deutschland das Schuldprinzip. Selbert gehörte dem Hessischen Landtag an, wurde dort aber nicht als Delegierte fĂŒr den Parlamentarischen Rat nominiert. Der damalige SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher setzte sich erfolgreich fĂŒr eine Nominierung durch Niedersachsen ein. âMĂ€nner und Frauen sind gleichberechtigt.“ Dieser Satz in Artikel 3 des Grundgesetzes war Selberts Vorschlag. Bevor er eine Mehrheit fand, mussten sie und die anderen Frauen gemeinsam mit verschiedenen Frauenorganisationen erst eine breite Ăffentlichkeitskampagne starten. Mitte Januar 1949 ĂŒbernahm der Hauptausschuss diesen Vorschlag.
Die StÀrken des Grundgesetzes
Die gröĂten StĂ€rken des Grundgesetzes â die MenschenwĂŒrde als Ausgangspunkt und die Ewigkeitsklausel, sind bereits angesprochen worden. Das Grundgesetz liefert zudem Hilfestellungen fĂŒr eine wehrhafte und stabile Demokratie â ĂŒber das bereits erwĂ€hnte Recht zum Widerstand hinaus. Es stĂ€rkt die Rolle der Parteien und verpflichtet sie zugleich auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung.
Art 21
(1) Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Ihre GrĂŒndung ist frei. Ihre innere Ordnung muĂ demokratischen GrundsĂ€tzen entsprechen. Sie mĂŒssen ĂŒber die Herkunft und Verwendung ihrer Mittel sowie ĂŒber ihr Vermögen öffentlich Rechenschaft geben.
(2) Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer AnhÀnger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeintrÀchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefÀhrden, sind verfassungswidrig.
1952 wurde die Sozialistische Reichspartei (SRP), die vom Bundesverfassungsgericht als Nachfolgepartei der NSDAP eingestuft wurde, verboten. 1956 folgte die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD), die eine âDiktatur des Proletariatsâ errichten wollte. Jahrzehntelang gab es einen Streit um ein NPD-Verbot, der 2017 mit einer Ablehnung des Verbotsantrags durch das Bundesverfassungsgericht endete. Die Richter sahen zwar eine verfassungsfeindliche Gesinnung, fanden aber auch, dass die NPD inzwischen zu klein und unbedeutend fĂŒr ein Verbot geworden sei. Wo die Mitglieder wohl alle geblieben sind?
Art 38
(1) Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewÀhlt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an AuftrÀge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.
Art 63
(1) Der Bundeskanzler wird auf Vorschlag des BundesprÀsidenten vom Bundestage ohne Aussprache gewÀhlt.
(2) GewÀhlt ist, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich vereinigt. Der GewÀhlte ist vom BundesprÀsidenten zu ernennen.
Art 67
(1) Der Bundestag kann dem Bundeskanzler das MiĂtrauen nur dadurch aussprechen, daĂ er mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen Nachfolger wĂ€hlt und den BundesprĂ€sidenten ersucht, den Bundeskanzler zu entlassen. Der BundesprĂ€sident muĂ dem Ersuchen entsprechen und den GewĂ€hlten ernennen.
Die 5-ProzenthĂŒrde ist nicht Teil des Grundgesetzes, sondern in Wahlgesetzen verankert. Das Bundesverfassungsgericht hat lediglich bestĂ€tigt, dass sie nicht dem Grundgesetz widerspricht. Diese Regelungen zusammen fĂŒhrten dazu, dass die Bundesrepublik Deutschland bisher von 22 Bundesregierungen mit sieben Kanzlern und einer Kanzlerin regiert wurde. Zum Vergleich: Italien brachte es in der Zeit auf 64 Regierungen mit immerhin 29 MinisterprĂ€sidenten.
Das ist auch ein Verdienst des konstruktiven Misstrauensvotums. Es ist in Deutschland â anders als in Ăsterreich, wo das Thema gerade sehr aktuell ist – nicht möglich, einen Kanzler oder eine Kanzlerin abzuwĂ€hlen, ohne die Mehrheit fĂŒr die Nachfolge beisammen zu haben. Zweimal wurde das Instrument versucht â 1972 fehlten Rainer Barzel zwei Stimmen, um Willy Brandt abzulösen und dessen Ostpolitik zu verhindern. Zehn Jahre spĂ€ter wechselte die FDP den Koalitionspartner und Helmut Kohl löste Helmut Schmidt ab.
Das Parteiensystem ist vergleichsweise stabil, gleichzeitig aber auch in Bewegung. 1949 reichte es noch, in einem Land ĂŒber die 5-ProzenthĂŒrde zu kommen. Neben CDU/CSU, SPD und FDP gab es Abgeordnete von KPD, Bayernpartei, Deutscher Partei, Zentrumspartei und anderen – sogar einen SSW-Abgeordneten. Ăbrig blieben fĂŒr lange Zeit CDU/CSU, SPD und FDP. 1983 kamen die GrĂŒnen dazu und mit ihnen viele Engagierte aus der AuĂerparlamentarischen Opposition. Nach der Wiedervereinigung kam die PDS in den Bundestag, die 1997 mit der WASG zur Partei âDie Linkeâ fusionierte. Mir ist bewusst, dass die Linke in ihrer Geschichte nicht unkritisch zu sehen ist. Aber man stelle sich das ostdeutsche Befinden vor, wenn es geheiĂen hĂ€tte: Unser Grundgesetz, unser Wirtschaftssystem, unsere Parteien. Noch so ein Thema fĂŒr spĂ€ter. Seit 2017 stellt nun auch die AfD eine Fraktion im Deutschen Bundestag. Bleibt sie langfristig erhalten und will sie sich in das demokratische System dieser Republik integrieren? Wir werden sehen âŠ
Der Spiegel (19/2019) nennt unser System eine âangeschnallte Demokratieâ. Dazu gehört auch ein Zwang zum Kompromiss. Wir haben ein VerhĂ€ltniswahlrecht, das in der Regel Koalitionen erforderlich macht, in einigen LĂ€ndern und vielleicht eines Tages im Bund sogar zwischen mehr als zwei Partnern. Und es gibt einen zweiten Zwang zum Kompromiss.
Art 77
(1) Die Bundesgesetze werden vom Bundestage beschlossen. Sie sind nach ihrer Annahme durch den PrĂ€sidenten des Bundestages unverzĂŒglich dem Bundesrate zuzuleiten.
(2) Der Bundesrat kann binnen drei Wochen nach Eingang des Gesetzesbeschlusses verlangen, daĂ ein aus Mitgliedern des Bundestages und des Bundesrates fĂŒr die gemeinsame Beratung von Vorlagen gebildeter AusschuĂ einberufen wird.
26 Prozent der jungen Erwachsenen im Osten und 23 Prozent im Westen gaben bei einer Studie in diesem Jahr an, dass es âeinen starken FĂŒhrerâ geben sollte, âder sich nicht um Parlamente und Wahlen kĂŒmmern mussâ. Das ist eine erschreckend hohe Zahl fĂŒr einen Staat, der gewissermaĂen auf Kompromissen gegrĂŒndet ist. Zeit fĂŒr ein Lob des Kompromisses, laut Duden eine âĂbereinkunft durch gegenseitige ZugestĂ€ndnisseâ: Gerade in der Politik sind Kompromisse oft nicht der Mittelwert aus zwei Positionen, sondern mit neuen Wegen und AnsĂ€tzen verbunden. Kompromisse, die von allen Beteiligten akzeptiert werden, können Konflikte entschĂ€rfen und Krisen verhindern. Wenn sich Menschen frei entfalten, was wir wollen, entstehen viele unterschiedliche Gruppen und Interessen. Und niemand will in einem Staat leben, in dem die einen gewinnen und die anderen verlieren. Und wie machen wir das? Mit Kompromissen.
Von Dolf Sternberger stammt der Begriff des âVerfassungspatriotismusâ, der wunderbar zum heutigen Anlass passt. Auch ĂŒber den Kompromiss hat er Kluges geschrieben: âDas Wesen der Politik unter freien und duldsamen, daher auch zur SelbstbeschrĂ€nkung bereiten Menschen – das Wesen solcher Politik ist die Bereitschaft zum KompromiĂ, zum aufrichtigen KompromiĂ. Wenn aber der KompromiĂ herrschen soll, so kann man mit den Feinden des Kompromisses, den ,KompromiĂlosen‘ oder Fanatikern, keinen KompromiĂ zulassen. Kein KompromiĂ mit den Feinden des Kompromisses!â
Nachbesserungen
Gleichstellung
In Sachen Gleichstellung von Mann und Frau war ja durch den Satz âMĂ€nner und Frauen sind gleichberechtigtâ alles geregelt. Oder nicht? Bei manchem Verfassungsgrundsatz dauert es etwas lĂ€nger, bis er GesetzesrealitĂ€t wird bzw. so richtig im Leben ankommt. Franz-Josef Wuermeling war von 1953 bis 1962 Familienminister, vertrat ein konservatives Familienbild und die damals nicht unĂŒbliche Auffassung, dass es nun einmal ein Familienoberhaupt -den Ehemann und Vater- geben mĂŒsse, das die letzte Entscheidung trifft. Wuermeling: âWenn das Familienoberhaupt als Inhaber und TrĂ€ger der AutoritĂ€t als Ersatz einer fehlenden Einigung von Mann und Frau entscheidet, so tut er das nicht im eigenen Namen, sondern Kraft eines Amtes innerhalb der Familienordnung.â Bis 1958 hatte der Mann das Recht auf diesen sogenannten Stichentscheid. Bis 1962 brauchten Frauen die Erlaubnis ihres Mannes fĂŒr das Eröffnen eines Bankkontos. Bis 1977 brauchte die Ehefrau die Erlaubnis ihres Mannes zur Aufnahme einer Arbeit. Vergewaltigung in der Ehe war bis 1997 laut Gesetz nicht möglich. Gegen diese GesetzesĂ€nderung haben auch heute noch aktive Politiker gestimmt. 1993 wurde mit Heide Simonis die erste Frau MinisterprĂ€sidentin eines Bundeslandes. 2004 zog die erste Frau in den Vorstand eines Dax-Unternehmens ein. 2005 wurde Angela Merkel die erste Bundeskanzlerin. 2013 gab es im Bundestag einen Frauenanteil von 36,5 Prozent, 2017 nur noch von 30,5 Prozent. Strittig ist in der Politik, ob das ein Problem der Gleichstellung ist. Die einen meinen, Frauen hĂ€tten ja dieselben Rechte, das mĂŒsse aber nicht zur selben ReprĂ€sentanz fĂŒhren. Die anderen finden, man mĂŒsse jetzt mit neuen Gesetzen nachhelfen. 2019 beschloss der Landtag in Brandenburg ein ParitĂ©-Gesetz, das gleich viele MĂ€nner und Frauen in den Parlamenten zum Ziel hat. Ob es der Verfassung entspricht, wird ĂŒberprĂŒft. Danach wird vermutlich auch ĂŒber die Verfassung zu diskutieren sein.
 Klimaschutz
Seit 1994 ist der Umweltschutz ein im Grundgesetz verankertes Staatsziel. Eine Kommission zur Ăberarbeitung des Grundgesetzes nach der Deutschen Einheit brachte das âFenster der Gelegenheitâ, das es in der Politik manchmal braucht, zu dieser ErgĂ€nzung.
Art 20a
Der Staat schĂŒtzt auch in Verantwortung fĂŒr die kĂŒnftigen Generationen die natĂŒrlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmĂ€Ăigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach MaĂgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.
Die Förderung erneuerbarer Energien, die Sicherung wertvoller Biotope oder eine ressourcenschonende Kreislaufwirtschaft â alles da. Oder? Wie verbindlich ist dieses Staatsziel? Muss Deutschland sich fĂŒr das weltweite Klima einsetzen und auf Kohleverstromung verzichten? Möglicherweise sogar dann, wenn andere das nicht tun? Was ist, wenn kĂŒnftige Generationen das GefĂŒhl haben, der Schutz der natĂŒrlichen Lebensgrundlagen reiche nicht aus? DĂŒrfen die dann streiken, sogar wĂ€hrend der Schulzeit? Oder schicken wir sie nach Hause und sagen: âWir haben verstanden.â Haben
Religion
Art 4
(1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.
(2) Die ungestörte ReligionsausĂŒbung wird gewĂ€hrleistet.
(3) Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden.
Und wenn nun bei der ReligionsausĂŒbung KopftĂŒcher getragen werden?
Art 7
(1) Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates.
(2) Die Erziehungsberechtigten haben das Recht, ĂŒber die Teilnahme des Kindes am Religionsunterricht zu bestimmen.
(3) Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach. Unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechtes wird der Religionsunterricht in Ăbereinstimmung mit den GrundsĂ€tzen der Religionsgemeinschaften erteilt. Kein Lehrer darf gegen seinen Willen verpflichtet werden, Religionsunterricht zu erteilen.
Die Kirchen haben das Recht, Einfluss auf den Religionsunterricht zu nehmen. Die katholische Kirche hat das Recht, gute Katholiken auszubilden. Ein religionskundlicher Unterricht unter Einbeziehung von Religionsexperten unterschiedlicher Konfessionen ist nur auf freiwilliger Basis möglich. Ăbrigens wird die ungestörte ReligionsausĂŒbung Mitgliedern aller Religionen gewĂ€hrleistet. Warum mĂŒssen die LĂ€nder dann zum Beispiel noch keinen Islamunterricht anbieten? Und hĂ€tte ein deutschsprachiger Islamunterricht in der Schule nicht viele Vorteile?
Pressefreiheit
Wer kennt Rezo?
Und wer kannte ihn vor dem gestrigen Tag?
FĂŒnf Millionen Menschen haben das Video in wenigen Tagen angeklickt. Und jede hier im Saal kann Medien nicht nur konsumieren, sondern selbst senden.
Artikel 5 regelt die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film. Und wie ist das im Internet? Wolfgang SchÀuble hat das Recht auf AnonymitÀt im Internet hinterfragt. An anderer Stelle gab es lebhafte Diskussionen um das Urheberrecht in der heutigen Zeit. Möglicherweise braucht unsere Gesetzgebung ausgehend vom Grundgesetz, ein Update.
Noch ein paar DenkanstöĂe in KĂŒrze:
- Die Kinderrechte sind noch nicht im Grundgesetz verankert. Wie wĂŒrden unsere Schulen aussehen, wenn es ein Grundrecht auf Bildung gĂ€be?
- Enteignung ist zum Wohle der Allgemeinheit zulÀssig. Warum dient der Bau einer Autobahn dem Wohl der Allgemeinheit mehr als die Schaffung von bezahlbarem Wohnraum? Die Weimarer Verfassung kannte noch ein Recht auf Wohnung.
- Aus den Persönlichkeitsrechten in Artikel 2 (Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmĂ€Ăige Ordnung oder das Sittengesetz verstöĂt) hat das Bundesverfassungsgericht das Recht auf informationelle Selbstbestimmung entwickelt. Damals wurde um die VolkszĂ€hlung gestritten. Es ging um das Recht des Einzelnen, grundsĂ€tzlich selbst ĂŒber die Preisgabe und Verwendung seiner personenbezogenen Daten zu bestimmen. Das klingt heute fast witzig. Wie ist das in Zeiten von Big Data?
Nichts ist so gut, dass es nicht verbessert werden könnte. DafĂŒr wird es engagierte Menschen und Kompromissbereitschaft brauchen. Politik auf dieser Grundlage macht SpaĂ â das kann ich nur empfehlen. Und ich weiĂ, dass es solche Menschen in allen Wentorfer Parteien gibt und diese sich alle ĂŒber weitere Mitmacher freuen.
Der neue Artikel 23 nach der Wiedervereinigung lautet ĂŒbrigens so:
Art 23
(1) Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der EuropÀischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen GrundsÀtzen und dem Grundsatz der SubsidiaritÀt verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewÀhrleistet.
Sonntag ist Europawahl!
Ich bedanke mich fĂŒr die Ehre, heute hier sprechen zu dĂŒrfen und fĂŒr Ihre Aufmerksamkeit!