Und eine Kommentierung von Martin Habersaat*:
Der Beginn der Debatte
In Westdeutschland wurde seit 1951 das Abitur nach dreizehn Jahren abgelegt. Nach vier Jahren Grundschule folgten neun Jahre am Gymnasium (G9). In Ostdeutschland wurde das Abitur nach zwölf Jahren vergeben. Nach der Wiedervereinigung übernahmen zunächst einige ostdeutsche Bundesländer das Abitur nach 13 Jahren. Parallel gab es jedoch eine Debatte über das Alter deutscher Hochschulabsolventen. In Europa war und ist eine kürzere Zeit bis zum Abitur die Regel, hinzu kamen die Wehrpflicht für männliche Absolventen und eine höhere Studiendauer. Die Wirtschaft drängte auf jüngere Nachwuchskräfte, die Rentenversicherung konnte eine längere Lebensarbeitszeit gut gebrauchen und in Ostdeutschland fand man, man hätte nicht ändern müssen, was jahrzehntelang gut geklappt hatte. Nach und nach führten alle Bundesländer das Abitur nach zwölf Jahren (wieder) ein. Einzige Ausnahme war Rheinland-Pfalz, wo das Abitur schon immer nach zwölfeinhalb Jahren vergeben wurde.
MH: Als in Hamburg G8 eingeführt wurde, war ich Lehrer am Emil-Krause-Gymnasium. Und ich war kein Freund von G8 – was sicherlich auch damit zusammenhing, dass ich selbst das Abitur nach dreizehn Jahren abgelegt habe und man oft dem zuneigt, was man aus eigener Erfahrung kennt. So habe ich auch Angela Merkels Hinweis auf ihr eigenes Abitur nach zwölf Jahren auf dem CDU-Landesparteitag in Neumünster verstanden. Mit der Qualität von Unterricht hat die Frage G8 oder G9 nach meiner Ansicht nicht zu tun. Guter Unterricht ist unter den Bedingungen von G8 und G9 möglich, schlechter Unterricht allerdings auch.
Geschichte in Schleswig-Holstein
Schleswig-Holstein war 2007 das letzte Bundesland, in dem die Umstellung auf G8 beschlossen wurde. 2016 verließen die ersten G8-Abiturienten die Gymnasien, weshalb oft von einem „doppelten Abiturjahrgang“ die Rede war. Ganz doppelt war er nicht, weil an den Gemeinschaftsschulen und den Beruflichen Gymnasien das Abitur weiterhin nach 13 Schuljahren abgelegt wird. Ins Staunen gerät, wer die treibenden Kräfte bei der Einführung von G8 sucht: Es waren der liberale Bildungspolitiker Ekkehard Klug ebenso wie die CDU-Landtagsfraktion.
2011 war Ekkehard Klug Bildungsminister, hatte es ich anders überlegt und führte eine Wahlmöglichkeit ein: Alle Gymnasien konnten entscheiden, ob sie bei G8 bleiben oder zu G9 zurückkehren wollten. Offen blieb immer, ob diese Entscheidung einmalig oder jährlich neu möglich war. Von den 99 Gymnasien in Schleswig-Holstein entschieden sich zwölf für G9, vier bieten das Y-Modell mit G8 und G9 an. Heute gibt es im Land nur elf G8-Gymnasium, weil das Gymnasium Wentorf auf Wunsch des Schulträgers nicht zurück zu G9 wechseln durfte (Mehrheit damals: CDU, UWW).
Seit dem 1. August 2014 gilt in Schleswig-Holstein ein neues Schulgesetz, das diese Wahlmöglichkeit nicht mehr beinhaltet. Erarbeitet wurden die Regelungen in einem Bildungsdialog. Unter anderem sprachen sich die Landeselternvertretung der Gymnasien, die Landesschülervertretung der Gymnasien und der UV Nord wie viele andere für den Grundsatz „G8 an Gymnasien, G9 an Gemeinschaftsschulen“ aus.
MH: In Schleswig-Holstein ist die Umstellung spät erfolgt, leider war sie trotzdem nicht freier von Problemen als anderswo. Das Doppelstundenprinzip hat sich an manchem Gymnasium erst recht spät durchgesetzt. Die Mittagspause vor der 7. und 8. Stunde auch. Die Entscheidung beim Bildungsdialog kam auch deshalb zustande, weil es in Schleswig-Holstein, anders als in anderen Bundesländern, alle Angebote gibt. G9 flächendeckend an Gemeinschaftsschulen und Beruflichen Gymnasien, G8 flächendeckend an den Gymnasien.
Die Lage in anderen Bundesländern
Einzelne westdeutsche Bundesländer sind in den vergangenen Jahren wieder teilweise zu G9 zurückgekehrt. Niedersachsen ist das einzige Land, das komplett wieder auf G9 setzt. In Hessen können die Schulen selbst entscheiden, in Baden-Württemberg testen 44 Gymnasien die Rückkehr zu G9. In Mecklenburg-Vorpommern wird wie in allen anderen ostdeutschen Ländern das Abitur nach zwölf Jahren abgelegt.
MH: In anderen Bundesländern gibt es kein vergleichbar dichtes Netz an Gemeinschaftsschulen und Beruflichen Gymnasien, deshalb ist die Lage schwer zu vergleichen. Dass wir das gleiche Schulsystem haben wie Hamburg (dort gibt es Stadtteilschulen mit G9 und Gymnasien mit G8), halte ich bei der engen Verknüpfung beider Länder für einen Wert an sich.
Bildungsdialog 2012/2013
Die Koalition aus SPD, Grünen und SSW hatte 2012 im Koalitionsvertrag festgelegt, vor etwaigen Schulgesetzänderungen einen Bildungsdialog durchzuführen. Ziel war, mit allen am Bildungssystem beteiligten Gruppen ins Gespräch zu kommen. Im September 2012 wurden bei der ersten Bildungskonferenz Arbeitsgruppen gegründet, die im Dezember 2012 in Werkstattgesprächen ihre Zwischenergebnisse präsentierten. Empfehlungen für das neue Schulgesetz wurden nun auf der zweiten Konferenz im Frühjahr 2013 von über 150 Teilnehmerinnen und Teilnehmern abgegeben, teilweise ohne Gegenstimme. Die Orte, an denen der Dialog stattfand, waren von hohem Symbolwert: Die Auftaktveranstaltung fand in der Toni-Jensen-Gemeinschaftsschule statt, die Werkstattgespräche am Gymnasium Kronshagen und die zweite große Konferenz schließlich am Regionalen Bildungszentrum Technik in Kiel. Damit waren auch die drei weiterführenden Schularten benannt, die in Schleswig-Holstein alle zur Hochschulreife führen können.
Empfohlen wurden die Umwandlung der Regionalschulen in Gemeinschaftsschulen, die Grundsatzregelung „Gymnasien bieten das Abitur in acht Jahren an, Gemeinschaftsschulen in neun Jahren“ (bestehende G9- oder Y-Gymnasien erhielten Bestandsschutz), die Ermöglichung von Kooperationen unter Gymnasien, Gemeinschaftsschulen und beruflichen Schulen, die dann gemeinsame Oberstufenkonzepte erarbeiten und die Abschaffung von abschlussbezogenen Klassen an Gemeinschaftsschulen.
MH: Die SPD und ihre Koalitionspartner fühlen sich an diese Ergebnisse des Bildungsdialogs gebunden, weil wir nur so den dringend benötigten Schulfrieden erreichen. Es sollte nicht nach jeder Landtagswahl das Schulsystem umgekrempelt werden.
Volksinitiativen in Hamburg und Schleswig-Holstein
Im März 2014 wurde bekannt, dass die Volksinitiative „G9 jetzt“ es nicht geschafft hatte, binnen eines Jahres die notwendigen 20.000 Unterschriften von Unterstützerinnen und Unterstützern zusammenzutragen. Tatsächlich schaffte man nur gut die Hälfte. Im Oktober 2014 musste dann die Initiative „G9–Jetzt–HH“ einräumen, dass sie die für einen Volksentscheid erforderlichen 63.000 Unterschriften nicht sammeln konnte. Sie hatte gefordert, den Hamburger Gymnasien die Wahlfreiheit zwischen dem Abitur nach acht oder neun Jahren einzuräumen.
MH: Ich habe Sympathie für die Auffassung, dass ein Jahr länger an der Schule für viele Schülerinnen und Schüler hilfreich wäre. Da würde ich aber zuerst auf die gucken, die die Schule nach neun oder zehn Jahren verlassen (müssen).
Studienergebnisse
Es gibt keine Studie, aus der hervorginge, dass das Freizeitverhalten von G8-Schülerinnen und Schülern sich signifikant von G9-Kollegen unterscheidet. In Nordrhein-Westfalen kam sogar heraus, dass die G8-Schülerinnen und Schüler häufiger im Sportverein waren oder einem musikalischen oder sozialen Hobby nachgingen. In Schleswig-Holstein ergab eine Befragung durch den Landeselternbeirat der Gymnasien und die Landesschülervertretung der Gymnasien, dass der Weg zum Abitur zwar anstrengend ist, aber weitgehend unabhängig davon, ob man acht Jahre oder neun Jahre am Gymnasium verbringt. Die Zufriedenheit mit der Schule lag bei beiden Gruppen im oberen Bereich. Beim Leistungsvermögen gibt es zwar Unterschiede, aber uneinheitliche. Manchmal sind die G8-Schülerinnen und Schüler besser, manchmal schlechter. Beim Bildungstrend 2015 des Berliner Instituts für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) gehörten Schleswig-Holsteins Schülerinnen und Schüler der neunten Klassen zu den Besten in Deutschland. Sie haben enorm aufgeholt in den vergangenen Jahren. Vor allem in Englisch, aber auch in Deutsch hat die jüngste IQB-Studie einen deutlichen Lernzuwachs festgestellt.
Bildungswissenschaftler wie Klaus Klemm oder Ulrich Trautwein raten davon ab, die G8-Reform rückgängig zu machen. Es gebe wichtigere Baustellen. Spiegel-Online hat im Juni 2016 einige Studienergebnisse zusammengetragen.
MH: Diese Ergebnisse kann ich mit anekdotischer Evidenz bestätigen. Ich habe Abiturientinnen und Abiturienten in G9 und G8 bis zum Abitur begleitet und bin der Meinung, dass in beiden Varianten junge Menschen die Schule verlassen haben, die bereit waren für das Leben und seine Herausforderungen. Nun sind sie alle Mitte 20 und diese Einschätzung hat sich bestätigt… Deshalb habe ich schon in meiner Zeit als Lehrer nicht mehr gefordert, das Rad zurückzudrehen.
Position der CDU
Die CDU hat sich in Schleswig-Holstein vehement für die Umstellung von G9 auf G8 eingesetzt. „Ich habe mehr als 20 Jahre für das G8-Abitur gekämpft“, sagte der ehemalige CDU-Spitzenkandidat Christian von Boetticher noch auf dem CDU-Landesparteitag in Neumünster. In der letzten Legislaturperiode hatte die CDU auf Drängen der FDP zwar allen Gymnasien ein Wahlrecht eingeräumt, ohne jedoch grundsätzlich an G8 zu wackeln. Noch im Oktober 2015 kündigte Daniel Günther für den Fall eines CDU-Wahlsiegs an: „Das Schulsystem wird so bleiben wie es ist.“ Zwei Tage vor dem Landesparteitag dann der Sinneswandel, der Wechsel zurück zu G9 soll für alle von oben angeordnet werden.
MH: Eigentlich diskutieren wir in der Landespolitik seit Längerem nicht mehr über das Schulsystem – Fragen nach der Unterrichtsqualität und den nötigen Ressourcen sind wesentlich dringender. Es ist ein Rückfall der CDU in überwunden geglaubte Zeiten. Ein Ziel haben die Christdemokraten aber sicherlich erreicht: Ihr Spitzenkandidat ist durch diese Volte bekannter geworden. Die Frage ist, ob so eine Politik ohne Rücksicht auf Verluste der Sache dienlich ist. Zwei positive Aspekte gibt es immerhin auch: Wegen des Konnexitätsprinzips („Wer bestellt, muss bezahlen“) würden die Schulträger im Land sich erstens über eine Landesfinanzierung der neuen Raumkonzepte freuen können. Positiv ist zweitens, dass kurz vor der Landtagswahl deutlich wird: Schulfrieden gibt es nur mit SPD, GRÜNEN und SSW. Wir machen das.
*Martin Habersaat ist seit 2009 Landtagsabgeordneter und seit 2011 bildungspolitischer Sprecher der SPD-Landtagsfraktion. Bis zu seinem Einzug in den Landtag war er Gymnasiallehrer am Emil-Krause-Gymnasium in Hamburg und unterrichtete dort die Fächer Deutsch, Geschichte und PGW (Politik, Gesellschaft, Wirtschaft). Von 2004 – 2006 absolvierte er sein Referendariat am Gymnasium Sachsenwaldschule in Reinbek.